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Titel
Tektonik der Perestroika. Das Erdbeben und die Neuordnung Armeniens, 1985–1998


Autor(en)
Doose, Katja
Reihe
Osteuropa in Geschichte und Gegenwart 3
Erschienen
Köln 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Bruisch, Department of History, Trinity College Dublin

Das Erdbeben vom Dezember 1988 war ein traumatisches Ereignis für die Bewohner Armeniens. Nach konservativen Schätzungen forderte es mindestens 25.000 Menschenleben, Zehntausende wurden verletzt, eine halbe Million Menschen verlor ihre Häuser oder Wohnungen. In der Stadt Spitak war die Zerstörung so groß, dass sie auf der Generalstabskarte von 1990 nur mehr als Ruine ausgewiesen wurde. Vor dem Hintergrund der Perestroika, der Unabhängigkeit Armeniens und des Karabachkonflikts der frühen 1990er-Jahre nähert sich Katja Doose in ihrer Monographie dem Erdbeben als einem Ereignis, das die „Strukturen und Mechanismen des sowjetischen Systems sowie […] die sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die am Ende zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen haben“ (S. 15), freilegte. Während sich die sowjetische Katastrophengeschichte jüngst vor allem mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl auseinandergesetzt hat1, lenkt Tektonik der Perestroika den Blick auf ein Ereignis, das unter OsteuropahistorikerInnen bislang nur beiläufig Beachtung gefunden hat. Anhand von Archivalien aus Armenien, Russland, den Vereinigten Staaten, der Schweiz und Deutschland, Presseberichten, Memoiren, historischer Expertenliteratur und 45 halbstrukturierten Interviews untersucht das Buch zeitgenössische Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie die langfristigen Auswirkungen des Erdbebens auf Politik und Gesellschaft Armeniens.

Dass die Autorin diese vielfältigen Quellen nicht nur in ihrem Entstehungskontext verortet, sondern Erkenntnisse der Katastrophen- und Konfliktforschung heranzieht, um die Geschehnisse in Armenien einzuordnen, ist ein besonderes Verdienst. Doose verwendet einen sozialkonstruktivistischen Katastrophenbegriff, demzufolge Katastrophen „nicht zufällig“ geschähen, sondern „von Gesellschaften und Herrschenden selbst produziert“ würden (S. 23). Ihre Fallstudie illustriert eindrücklich, dass ein solcher Ansatz neue Einsichten in die gesellschaftliche und politische Verfasstheit des sowjetischen Staates ermöglicht.2

Angesichts der hohen Opferzahl und des Ausmaßes der Zerstörung fragt Katja Doose zunächst nach den Gründen für die Vulnerabilität der armenischen Gesellschaft. Sie macht ein mangelhaftes Gesundheitswesen, eine Bausubstanz, die der seismischen Aktivität in der Region keine Rechnung trug, und einen weitgehend an militärischen Prioritäten ausgerichteten Katastrophenschutz für die traurige Bilanz des Erdbebens verantwortlich. Hinzu kam, dass sich die armenische Nationalbewegung, die eine Eingliederung Bergkarabachs in die armenische Sowjetrepublik forderte, im Vorfeld der Katastrophe zu einer einflussreichen Kraft entwickelt hatte und ethnische Spannungen zunehmend in offene Gewalt umschlugen. Zur Zeit des Erdbebens befanden sich mehr als 300.000 Menschen auf der Flucht: Armenier, die nach dem Pogrom von Sumgait im Februar 1988 aus Aserbaidschan flüchteten, und Aserbaidschaner, die sich vor gewaltsamen Übergriffen von Armeniern in Sicherheit brachten. Das Erdbeben ereignete sich folglich zu einem Zeitpunkt, als unsichere Lebensverhältnisse bereits weit verbreitet waren und ethnische Konflikte den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Region bedrohten. Die Verkettung dieser Umstände, so zeigt dieses Buch, sollte das politische Klima in Armenien bis in die 1990er-Jahre beeinflussen.

Wie die Autorin überzeugend darlegt, lassen die Reaktionen Moskaus auf das Erdbeben Schlüsse auf die Reichweite und Grenzen der Perestroika zu, als Michail Gorbatschows Reformversuche die Möglichkeiten des Sagbaren und die Machthierarchien in der Sowjetunion verschoben. Vor allem die öffentliche Berichterstattung markierte das Erdbeben als ein Ereignis der Perestroika. Anders als bei früheren sowjetischen Katastrophen, die geheim gehalten oder mit Hilfe von Heldennarrativen medial aufbereitet wurden, dokumentierten Zeitungs- und Fernsehberichte offen das Leid und die Zerstörung in Armenien. Damit zeigten sie nicht nur die Verwundbarkeit der sowjetischen Gesellschaft auf, sondern lieferten Gorbatschow zudem Argumente für eine Reform des Katastrophenschutzes. Zugleich stilisierten die Medien die Katastrophe zu einem kathartischen Moment, in dem die Völker der Sowjetunion geeint zusammen standen, auch wenn in der Region selbst davon nur wenig zu spüren war. Die Berichterstattung blieb folglich den Interessen der politischen Führung in Moskau verpflichtet, die bemüht war, die ethnischen Spannungen in der Region kleinzureden und den sowjetischen Zusammenhalt zu beschwören. Dass die Sowjetunion humanitäre Hilfe aus dem Ausland akzeptierte, unterschied das Erdbeben ebenfalls von früheren Katastrophen. Auch wenn die internationale Hilfe nicht unproblematisch war (so wurden etwa 1 Million salmonellenverdächtiger Eier aus Großbritannien sowie abgelaufene Lebensmittel und Medizin in die Erdbebenregion entsandt) und sowohl die Sowjetunion als auch westliche Regierungen strategische Ziele mit dieser Kooperation verbanden, öffnete sich hier erstmals ein Fenster für die Zusammenarbeit bei Katastropheneinsätzen über den Eisernen Vorhang hinweg.

Trotzdem, so ein zentrales Argument dieser Arbeit, trugen das Erdbeben und seine Folgen zur Entfremdung Armeniens von der Sowjetunion bei. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Katja Doose, dass die Sicherung der staatlichen Ordnung für Moskau immer oberste Priorität behielt. So traten die nach dem Erdbeben in die Region entsandten Soldaten als Wahrer der öffentlichen Ruhe, nicht aber als Rettungshelfer in Erscheinung. In den Augen der vom Erdbeben betroffenen Bevölkerung agierte der sowjetische Staat hier also nicht als Schutz- und Fürsorge-, sondern als Kontrollinstanz. Der deutlichste Beleg für Moskaus Versuche, die sowjetische Herrschaft an der Peripherie zu sichern, war die Verhaftung der Mitglieder des Bergkarabachkomitees, deren Losungen die territoriale Ordnung der Sowjetunion in Frage stellten. Da sie zugleich auf lokaler Ebene in der Erdbebenhilfe engagiert waren, wurden die Mitglieder des Komitees für viele Armenier zu Märtyrern, die dafür bestraft wurden, dass sie sich – anders als der sowjetische Staat – der elementaren Sorgen der Bevölkerung annahmen. Gorbatschows Weigerung, gegen eine aserbaidschanische Blockade des Schienenverkehrs vorzugehen, die die Einfuhr wichtiger Güter in das vom Erdbeben gezeichnete Armenien behinderte, trug ebenfalls dazu bei, dass sich viele Menschen von der sowjetischen Führung im Stich gelassen fühlten. Das uneingelöste Versprechen eines schnellen Wiederaufbaus nahm dem sowjetischen Projekt zudem seine Anziehungskraft. Das Scheitern Moskaus in der Versorgung der Erdbebenopfer wirkte so wie ein Brandbeschleuniger in den Debatten über die Zukunft des armenisch-sowjetischen Verhältnisses. Der gleichzeitige Wandel der Medienlandschaft verlieh der wachsenden Frustration in der Bevölkerung einen Resonanzraum, den es bei früheren Katastrophen in dieser Form noch nicht gegeben hatte, und trug so zur Erosion der sowjetischen Ordnung bei.

Mit ihrer Studie leistet Katja Doose einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Perestroika an der sowjetischen Peripherie. Keineswegs geht es ihr darum, Armeniens Weg in die Unabhängigkeit als direkte Folge des Erdbebens darzustellen. Vielmehr zeigt sie, wie das Erdbeben den politischen und gesellschaftlichen Wandel in der Sowjetrepublik prägte und somit als wesentlicher Faktor in der jüngeren Geschichte Armeniens Aufmerksamkeit verdient. Deutlich macht die Autorin dies insbesondere in Bezug auf armenische Diaspora-Gemeinden, deren Vertreter nach dem Erdbeben politisch in Armenien aktiv wurden und später wichtige Ämter und Beratungsfunktionen im unabhängigen Armenien einnahmen. Auch die Wiederannäherung und langfristige Bindung Armeniens an Russland lassen sich mit Blick auf das Erdbeben besser verstehen.

In Anbetracht der Loslösung Armeniens von der Sowjetunion und des anschließenden Krieges um Bergkarabach ist es nachvollziehbar, dass die Studie die Brüchigkeit der sowjetischen Ordnung in das Zentrum rückt und den Prozess der politischen Entfremdung Armeniens von Moskau nachvollzieht. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit diese Perspektive nicht den Blick auf jene Akteure versperrt, die trotz aller Enttäuschungen an der Idee eines sowjetischen Armeniens festhielten. Zwar vermeidet die Autorin eine teleologische Perspektive auf den Weg in die Unabhängigkeit und beschreibt etwa, wie die Demontage einer Leninstatue in Jerewan unter den Anwesenden nicht nur Jubel, sondern auch Unbehagen hervorrief. Es wäre aber interessant gewesen, wenn solche komplexen Haltungen und Gefühle noch stärker in das Gesamtnarrativ eingearbeitet worden wären. Auch die zahlreichen Freiwilligen und Hilfsinitiativen aus weit entfernten Gebieten der Sowjetunion hätten in der Interpretation vielleicht mehr Beachtung verdient. Zwar konnten viele dieser Freiwilligen keine nennenswerte Hilfe leisten. Viele kehrten sogar traumatisiert aus der Erdbebenregion zurück. Was aber sagt uns dieses Engagement über die Sowjetunion als Wahrnehmungs- und Handlungsraum jenseits staatlicher Interessen und Institutionen am Vorabend des Zusammenbruchs? Diese Fragen stellen sich, gerade weil diese Arbeit schwierige Deutungen nicht scheut. Tektonik der Perestroika ist ein sorgfältig recherchiertes und nuanciertes Buch, das in der Literatur zum Zerfall der Sowjetunion und zur sowjetischen Umweltgeschichte einen wichtigen Platz einnehmen wird.

Anmerkungen:
1 Kate Brown, Manual for Survival. A Chernobyl Guide to the Future, New York 2019; Serhii Plokhy, Chernobyl. History of a Tragedy, New York 2018.
2 Vgl. auch Marc Elie / Klaus Gestwa, Zwischen Risikogesellschaft und Katastrophenkulturen. Zur Einführung in die Katastrophengeschichte Osteuropas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62:2 (2014), S. 161–179.

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